Wer ist hier dick?

Nachdem vor einigen Tagen das Hashtag #waagnis über Twitter hallte und zahlreiche Blogartikel nach sich zog, ich mir den einen oder anderen durchgelesen habe und bei einem auch kommentierte (Antje Schrupp), muss ich nun doch noch meinen eigenen Senf zu diesem Thema dazu geben, denn ich bin betroffen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Vorerst: Mein Gewicht schwankte im Laufe meines Lebens wie ein Wetterbarometer. Ich war mir sogar mal nicht zu müßig, meine Gewichtsschwankungen seit meinem 18. Lebensjahr grafisch festzuhalten:

Gewichtskurve

(Über)gewichtige werden in unserer Gesellschaft gern als krank und defizitär abgestempelt. Sie fallen aus der „Norm“, und schon kommen Normgläubige daher und kategorisieren. Dazu gehören auch solche Menschen, die etwas moderatere Schubladen aufmachen, aber sie machen dennoch Schubladen auf. Ihr Fatbashing tritt dann in Worten wie „medizinisch übergewichtig“ oder „gesünderes Leben“ oder „aus dem Gleichgewicht geraten“ in Erscheinung.

Dabei zeigen Menschen, die aus der „Norm fallen“ („Norm“ in Anführungszeichen, weil es keine definierte Norm gibt, das ist ausschließlich eine Auslegungssache, und „fallen“ spricht auch für sich), lediglich, dass sie anders sind. Anders ist aber nicht gleichbedeutend mit schlechter oder defizitärer oder kranker oder verantwortungsloser. Überhaupt, Verantwortung. Gern wird an das Verantwortungsgefühl der „Aus-der-Norm-Fallenden“ appelliert. Selbst wer es einmal geschafft hat, von „außerhalb der Norm“ wieder „in die Norm“ zu kommen, stimmt freudig in dieses Lied mit ein: Ist er doch von einem Saulus zum Paulus mutiert, hat seine Verantwortung wahrgenommen und kann sich jetzt entspannt zurücklehnen, denn er ist der bessere Mensch.

Fragt sich nur, für wie lange. Es gibt keine Garantie dafür, dass ein Mensch „in der Norm“ bleibt. Er kann sich aus dieser auch ganz schnell wieder entfernen, und die Wahrscheinlichkeit dafür ist sogar ziemlich hoch, wie Studien zeigen. Dass ehemals (Über)gewichtige nach einer Phase des Schlankseins (und „gesunden Lebens“) wieder rückfällig werden, ist eher die Regel als die Ausnahme. Man sehe sich meine Gewichtskurve an. Es gab Zeiten, in denen ich schlank war. Aber sie dauerten nie lange, und meistens wurde ich von meinen guten Vorsätzen, der „Norm“ zu entsprechen und „gesünder“ zu leben, durch äußere Schicksalsschläge wieder abgebracht, ich sage heute eingeholt. Zu nennen seien Mobbing im Job, Tod eines nahen Angehörigen, Jobverlust, Arbeitslosigkeit, Trennung und Scheidung, Verlust des Zuhauses. Aber auch weniger einschneidende Lebensereignisse können einen Menschen davon abbringen, seine ganze Kraft und sein ganzes Streben darein zu setzen, so zu agieren oder zu sein, wie es andere für einen als richtig erachten (zu den „anderen“ gehören auch Ärzte, Lehrer, Psychotherapeuten).

Die Gesellschaft geht mit ihren Mitmenschen ausgesprochen unmenschlich um, in dem sie ihre eigenen Defizite verdrängt und auf die sich anbietenden Menschen (Alkoholiker, (Über)gewichtige, Hartz-IV-Bezieher etc.) projiziert. Anstatt an ihren eigenen Missständen anzusetzen, drischt sie auf die Menschen ein, die Opfer ihrer Missstände geworden sind. Klar, es wird gern an das Verantwortungsbewusstsein der Menschen appelliert. Es ist ja auch völlig richtig: Ein jeder fange bei sich selbst an. Aber: Es gibt Missstände, die liegen nun mal nicht in der Verantwortung des Einzelnen. Auch wenn es dem Menschen bewusst ist, dass übermäßiger Fleischkonsum schlecht für die Umwelt ist und er selbst anfangen kann, diesen einzuschränken, so frage man sich doch: Warum ist das denn so? Warum hat die Werbung uns jahrzehntelang eingetrichtert, Fleisch sei ein Stück Lebenskraft? Ich bin als Kind in diesem Glauben aufgewachsen. Und nun versuche man mal, die in der Kindheit verinnerlichten Überzeugungen über den Haufen zu werfen. Das geht zwar, aber dazu ist viel Zeit, Reflektion und Kraft nötig. Kraft, die nicht immer unbedingt da ist. Besonders dann nicht, wenn von Mitmenschen keinerlei Unterstützung zu erwarten ist.

Was nützt es mir, mir vorzustellen, von nichtmal einer Hand voll Reis überleben zu müssen? Gar nichts. Ich lebe in einer Gesellschaft, in der diese Situation nicht gegeben ist. Dennoch haben die Menschen in den Regionen dieser Erde, für die das Realität ist, mein ganzes Mitgefühl. Ich kann auch was für sie tun, spenden etc. Aber muss ich mir deswegen von irgend welchen Menschen, die nicht ansatzweise wissen, wovon sie reden, vorwerfen lassen, ich sei verantwortungslos, weil (über)gewichtig? Ich bin es ziemlich leid, mir von anderen meine Lebensumstände erklärt und be(ver)urteilt zu bekommen, weil ich dummerweise in einem der reichsten Länder der Erde geboren und aufgewachsen bin statt in Bangladesh. Mit diesen subtilen „Angesichts des Hungers in dieser Welt“-Keulen auf jene einzudreschen, die nicht der perfiden Norm entsprechen und nicht „maßhalten“ können, ist genau das, was uns immer wieder vorgeworfen wird: Verantwortungsloses und unmenschliches Handeln. Das ist die wahre Maßlosigkeit, die auf diesem Globus ihr Unwesen treibt.

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So. Ich habe fertig.

Ne, doch nicht ganz: Sorry für das generische Maskulinum. Auch hier bin ich gerade wieder mal von der Macht der Gewohnheit überwältigt worden.

Und noch was: Ich bin als Kind in den Zaubertrank gefallen.

Uwe Steinhoff

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